Upcycling von Festivalmüll – Ein neues Leben für Zelte und Schlafsäcke
Während unserer Recherche zur Sheltersuit Foundation ist uns aufgefallen, dass nicht nur diese von unterstützte Organisation Zeltstoffe rettet und verarbeitet, die sie meist fabrikneu oder als Überschussware direkt aus der Modeindustrie gespendet bekommen. Es gibt mittlerweile einige nennenswerte Initiativen, die gezielt auf Festivals gehen, um dort kaputte oder herrenlose Zelte einzusammeln, um daraus neue Produkte zu gestalten. Ihre Motivation ist es, mit Blick auf die Müllberge vor Ort, ein Zeichen zu setzen und auf die Missstände aufmerksam zu machen und zur Müllvermeidung beizutragen. Im besten Fall etablieren sich so mit der Zeit Aspekte der Nachhaltigkeit und Müllvermeidung auf Festivals. Hier stellen wir einige von ihnen vor.
Sheltersuit Foundation – Wärme, Schutz und Würde für Obdachlose
Der niederländische Modedesigner und Gründer der gemeinnützigen Organisation Sheltersuit, Bas Timmers, hat eine innovative Multifunktionsjacke entworfen, die obdachlose Menschen dabei unterstützt, in der kalten Jahreszeit auf der Straße (über-)leben zu können. Innovativ ist das 3-in1-Konzept des multifunktionalen Wärmespenders: Der Sheltersuit besteht aus einer wind- und wasserdichten Jacke, einem optionalen Schlafsack(aufsatz) und einem praktischen Rucksack für den Transport. Die Jacke kann auf diese Weise schnell und problemlos in einen Schlafsack umgewandelt werden, um für sofortigen Schutz zu sorgen. Zu den Zusatzfunktionen, die perfekt auf die Bedürfnisse von wohnungslosen Menschen abgestimmt sind, zählt beispielsweise eine große Kapuze, die das Gesicht vor Regen und dem grellen Licht der Straßenlaternen schützt oder große Jackentaschen, in denen lose Gegenstände ihren Platz finden und allzeit griffbereit sind. Hergestellt werden die Sheltersuits in einem sozialen Nähatelier in Enschede in Holland. Sie sind ein vollständig upgecyceltes Produkt, überwiegend aus Textilabfälle, die aufgrund von Produktionsfehlern wie ein falsch platziertes Logo weggeworfen worden wären. Ein spannendes Detail: Das Innenfutter wird soweit möglich aus recycelten Schlafsäcken hergestellt, die über Kooperationen mit dem Pinkpop und dem Zarte Cross Festival gespendet werden. Denn diese bleiben dort oftmals einfach zurück.
Re- und Upcycling in der Modebranche für einen guten Zweck
Großveranstaltungen und Festivals gelten als ein Ort der Verschwendung. Zelte und Schlafsäcke werden zum Wegwerfprodukt und einfach dagelassen, weil defekt oder der Abbau zu mühsam. Nach jedem Festival türmen sich die Müllberge. Bei großen Festivals kommen da schon mal bis zu 10.000 Zelte zusammen, insgesamt etwa 15 Kilo Müll pro Person. Bis dieser vollständig entsorgt ist, dauert es teilweise mehrere Wochen. Vielen Besucher:innen scheint das Ausmaß jedoch nicht klar zu sein, diese kollektive Gleichgültigkeit zu durchbrechen ist das Ziel einiger überzeugender Konzepte. Recycelte Materialien sind inzwischen auch bei großen Modekonzernen beliebt. Leider gibt es in der Textilbranche noch keine vernünftigen Recyclingprozesse für synthetische Stoffe, wie der Kunststoff, aus dem die Zelte gefertigt sind, so dass diese in der Müllverbrennungsanlage landen. Dass das Thema Nachhaltigkeit aktuell ist, merkt man auch daran, dass Festivalbetreiber gemeinsam mit bestehenden Initiativen mittlerweile Sammelstellen für Zelte einrichten sowie verstärkt auf Mülltrennung, Mehrwegsysteme und die Ausgabe von Müllsäcken für Besucher setzen. Auch Reparaturservices für beschädigte Zelte und das Mieten von Zelten und Equipment sind neu etablierte Angebote.
tentation – Von der Wegwerfgesellschaft hin zur Kreislaufwirtschaft
Die Hamburger Designerin Katrin Rieber kreiert in ihrem Atelier einzigartige Produkte aus Materialien, die eigentlich schon zu Müll erklärt wurden. Beim Anblick zurückgelassener Festivalzelte kam ihr 2017 die Idee dazu und gründete kurz darauf ihr nachhaltiges Modelabel tentation. Sie wollte diesen Materialien wieder neues Leben geben und schuf eine Regenjacken-Kollektion, die wiederum auf einem Festival zum Einsatz kommen könnte.
Der Prozess vom Zelt einsammeln bis zur Nähmaschine ist aufwändig, doch für derart wertvolle Materialien wäre die Müllverbrennungsanlage für sie keine Option. Grundsätzlich versucht sie, alle Bestandteile der Zelte wiederzuverwerten und sich nicht nur wie andere Upcycling-Projekte auf die Zeltstoffe zu beschränken. Auch zerschneidet ihr Team kein intaktes Zelt, wenn dieses von anderen Organisationen noch als Zelt für Bedürftige genutzt werden könnte. Die Resonanz ist bislang gut. Das Thema, das sie jedoch umtreibt, ist die Kreislaufwirtschaft in der Modebranche, in der Re- und Upcycling immer noch Pionierarbeit ist. Sie will Materialien länger nutzbar machen, aktuell plant Rieber eine Merchandise-Linie mit den Logos der Festivals. Ihr Ziel ist es, eine eigene inklusive Werkstatt in Hamburg zu eröffnen, denn ihre Mode soll zu 100 Prozent in Deutschland hergestellt werden und fair sein.
tentation und die Öko-Initiative Utopia haben gemeinsam mit einer Upcycling-Aktion im Rahmen eines neuen Nachhaltigkeitskonzepts des Musikspektakels Rock am Ring 2022 für mehr Nachhaltigkeit geworben. Aus zurückgelassenen Zelten wurden Taschen, Rucksäcke und Jacken geschneidert, deren Gewinne ökologischen und sozialen Projekten zugute kamen.
Raindance – Eine nachhaltige Alternative zum Wegwerf-Poncho
Die Idee zu Raindance haben drei Studierende von Enactus Wuppertal e.V. während eines Ideen-Sprints entwickelt, weil sie das Ausmaß des Mülls auf Festivals und die Ignoranz der Festivalbesucher überrascht und schockiert hat. Zahlreiche Festivalbesucher:innen lassen ihre Zelte einfach stehen, die Müllberge sind enorm. In anderen Regionen der Welt fehlt den Menschen hingegen ein Dach über dem Kopf. Das junge Team möchte diese Ungleichverteilung lösen. Die Idee ist, aus Zeltstoff von auf Festivals liegen gelassenen Zelten stylische Regenponchos zu nähen. Diese sollen über Online-Shops und auf Festivals selbst als nachhaltige Alternative zu den billigen Wegwerf-Ponchos angeboten werden. Mit den Einnahmen aus dem Poncho-Verkauf sollen weitere Zelte eingesammelt, aufbereitet und dorthin gebracht werden, wo sie wirklich gebraucht werden: in Flüchtlingscamps, Krisengebiete und zum Katastrophenschutz. Die ersten eigenen Protoypen wurden bereits entworfen und genäht, nun wird in Kooperation mit Designschulen an professionellen Schnittmustern und -designs gearbeitet. Einige Zelthersteller und -händler hat die Idee bereits überzeugt und sie liefern das Material für die Entwicklungsphase, so dass der kommenden Festivalsaison nichts mehr im Wege steht.
The Tent Collectors – Ein Dach über dem Kopf für geflüchtete Menschen
Tausende Zelte, Schlafsäcke und Matratzen werden nach Festivals zurückgelassen und landen im Müll. Ein Paar aus Neuseeland hat Verwendung für die Überbleibsel gefunden. Kate Robertson hat während ihres Freiwilligendiensts das Ausmaß des Leids in den Flüchtlingscamps auf Samos gesehen. Zurück in ihrer Heimat haben sie und ihr Partner Sam Reynolds über das immense Abfallproblem in der sommerlichen Festivalsaison diskutiert. Dann haben sie eins und eins zusammengezählt und gehandelt. Heute machen sie auf den beiden größten Festivals stets am ersten Tag Aufklärung über Abfallvermeidung, direkt vor Ort. Denn es ist unglaublich, wie viel Müll zurückbleibt. Am Ende sammeln sie und ein Team aus Freiwilligen etwa 400 Zelte und 400 Schlafsäcke ein. Es folgt eine gründliche Reinigung, anschließend werden sie verpackt und gelagert. Ihr Ziel war es, einen 20-Fuß-Schiffscontainer zu füllen. Für die gesamte Logistik und die Transportkosten sind sie auf Spendensuche gegangen. Angesichts der Lage in den Flüchtlingscamps im Mittelmeer war die Aktion ihnen zufolge trotz des hohen Aufwands aus Kosten-, Umwelt- und humanitärer Sicht mehr als sinnvoll. Allein der Aspekt der Müllvermeidung wiegt enorm.
ReTent – Kieler Startup schenkt herrenlosen Zelten ein zweites Leben
Nach dem Feiern kommt das große Aufräumen: Aus weggeworfenen Zelten machen die musikbegeisterten Studierenden der ReTent GbR stylische Sport- oder Festival-Bags. Allein beim Wacken Open Air sammelten sie 400 Zelte ein, um sie zu recyceln und neue Produkte zu erschaffen. Ihre Mission ist, das Müllaufkommen auf Festivals zu reduzieren, um diese dadurch nachhaltiger und umweltfreundlicher zu machen. Ihre Angebotspalette vertreibt sie über einen Onlineshop. Ihre Produkte können auch gebranded und als Merchandise auf den Festivals angeboten werden.
Die Kattunfabrik e.V. – Die österreichische Alternative zu Fast Fashion
Beim Wiener Upcycling-Projekt “die Kattunfabrik – das Culture Lab” können heimat- oder arbeitslose Menschen Schneiderei-Fachkenntnisse erlernen, auffrischen und an praktischen Projekten üben. Hier werden aus alten Festivalzelten Regenjacken hergestellt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass insbesondere viele geflüchtete Menschen grundlegende Textilkenntnisse mitbringen, allerdings fehlen ihnen natürlich Deutschkenntnisse, insbesondere Fachbegriffe aus der Textilindustrie. In der eigenen Übungswerkstatt können die Teilnehmer:innen diese erlernen und werden für den Arbeitsmarkt fit gemacht. Upcycling-Projekte, die aus vermeintlichem Müll wieder etwas Brauchbares herstellen sind für die Kattunfabrik dringend notwendig, um der Umweltverschmutzung entgegenzuwirken. Die Regenjacken werden aus verlassenen Festivalzelten produziert, die zuvor eingesammelt, gereinigt, zugeschnitten und wasserdicht vernäht werden. Mit den Slogans „Müll schützt“ oder „Fescher Müll“ macht die Kattunfabrik auf den nachhaltigen, sozialen Gedanken hinter ihren Jacken aufmerksam: Für jede verkaufte Jacke geht eine weitere an bedürftige Personen.
MEHR ZUM PROJEKT
Sheltersuit
Wir unterstützen Sheltersuit im Februar 2024 mit den Einnahmen von GOOD. Mehr dazu erfahrt ihr auf unserer Projektseite:
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Andreas Renner, Co-Founder GOOD: andreas@good-search.org