17 Ziele: Wie Sozialunternehmen in Österreich Chancen für Menschen mit Behinderungen schaffen

© Nathan Anderson / Unsplash

Von “sehenden Schuhen” und hilfreichen Online-Plattformen, die sich in Krisenzeiten den unterschiedlichsten Bedürfnissen agil anpassen: Wir stellen 9 Sozialunternehmen aus Österreich vor, die den Alltag für Menschen mit Behinderung revolutionieren wollen.

Laut Statistik Austria leben in Österreich 18,4 Prozent der Wohnbevölkerung mit einer Behinderung, das entspricht etwa 1,3 Millionen Menschen. Sie möchten vor allem eins: Ein selbstbestimmtes und ungehindertes Leben führen. Doch noch immer begegnen Menschen mit Behinderungen in ihrem alltäglichen Leben viel zu oft auf Hindernisse, die abgebaut werden müssen, damit sie mitten in der Gesellschaft selbstbestimmt leben können. Von innovativen Produkten wie “sehenden Schuhe” und klugen Ideen, die aus dem vermeintlichen Nachteil eine Stärke machen bis hin zu hilfreichen Online-Plattformen, die sich gerade auch in Krisenzeiten agil anpassen und beweisen, schaffen diese österreichischen Sozialunternehmen Chancen für Menschen mit Behinderungen. Mit ihrem Engagement setzen sie sich aktiv für das SDG #10 – Weniger Ungleichheiten ein. Darüber hinaus wirkt sich ihr Handeln ebenfalls positiv auf weitere SDGs wie beispielsweise das SDG #8 – Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum sowie das SDG #3 – Gesundheit und Wohlergehen aus.

 

Specialisterne Österreich

Die “Specialisterne Foundation” wurde 2004 in Dänemark von Thorkil Sonne gegründet und verfolgt das Ziel Menschen im Autismus-Spektrum besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Denn noch immer sind die Betroffenen mit Vorurteilen, Mobbing und mangelndem Verständnis in der Gesellschaft konfrontiert. Schätzungen zufolge leben ein Prozent der Bevölkerung im Autismus-Spektrum, davon sind etwa 80 Prozent von allen arbeitsfähigen Personen arbeitslos. Der Verein, der mittlerweile in mehr als 12 Ländern weltweit, darunter auch Österreich, aktiv ist, nimmt sich diesem sozialen Problem an. Denn auch in Österreich sind 20.000 Menschen von der Problematik einer hohen Arbeitslosenrate betroffen. Specialisterne möchte mehr Jobs für Autist:innen schaffen, indem die Stärken des Autismus in unternehmerische Erfolge umgewandelt werden. Das gelingt durch persönliche Beratungen, Kurse und Trainings, einem Autismus-Netzwerk sowie der Jobvermittlung und Coaching. Mit ihrem wertvollen Angebot konnten 70 Prozent aller Kursabsolvent:innen von Specialisterne Österreich im Anschluss eine Stelle finden. So setzt sich die Initiative, die nach sozial-unternehmerischen Ansätzen handelt, erfolgreich für Toleranz und Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt ein.

myAbility

Auch das innovative Sozialunternehmen “MyAbility” möchte sich für mehr Chancengerechtigkeit und Barrierefreiheit auf dem Arbeitsmarkt einsetzen. Sie helfen Unternehmen im deutschsprachigen Raum dabei, die Potenziale von Menschen mit Behinderungen als Mitarbeiter:innen und Kund:innen zu erkennen und richtig zu nutzen. Das hier ein riesiges Potenzial versteckt liegt, zeigt ein Blick in die Statistik: So lebten laut dem WHO World Report on disability 2011 in Deutschland, Österreich und der Schweiz über 15 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Das Sozialunternehmen gibt ihr umfangreiches wirtschaftliches Wissen und Know-How an die Partnerunternehmen weiter und entwickelt gemeinsam mit ihnen Inklusionsstrategien. Gleichzeitig versteht es das Sozialunternehmen, diese Werte auch selbst zu leben. Das inklusive Team von MyAbility besteht aus Expert:innen mit und ohne Behinderungen, die sich selbst auch als “Ability Engineers” verstehen.

Atempo

Das Grazer Sozialunternehmen “Atempo” hat sich auf die Entwicklung von Produkten in den Bereichen allgemeine Bildung, Integration in den Arbeitsmarkt, Barrierefreiheit und die Evaluation von sozialen Dienstleistungen spezialisiert. Sie wollen ermöglichen, dass alle Menschen gleichberechtigt arbeiten, leben und wohnen dürfen. So entwickelte das Social Business u.a. “ava”, eine Online-Plattform zur Assistenz von behinderten Menschen. Hier können sich Interessierte als Assistent:innen für Menschen mit Behinderung anmelden und ihre Unterstützung anbieten. Bei der Anmeldung kann man die eigenen Interessen und Erfahrungen angeben, sodass man hier die für sich passende Assistenz findet, die den eigenen Vorstellungen entspricht. Des Weiteren steckt das Unternehmen hinter dem Gasthaus und Café “Das Lorenz”, eines der wenigen inklusiven Restaurants in Graz. Das bedeutet, dass sowohl in der Küche als auch im Service Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten.

© Renée Del Missier / myAbility

 

Knitrose

Ganz ähnlich wie das deutsche Sozialunternehmen “Blauherz” hat sich das österreichische Unternehmen “Knitrose” auf die Herstellung von Bekleidung für Rollstuhlfahrer:innen, Senior:innen und Frauen mit Mobilitätseinschränkungen spezialisiert. Das Social Business aus Wien wurde von Olena Kimova gegründet, die sich vor der Gründung freiwillig in einem Altenheim engagierte. Bei der Arbeit fiel ihr auf, wie schwierig es sein kann, Menschen mit eingeschränkter Mobilität mit herkömmlicher Kleidung anzuziehen. Dies brachte sie auf die Idee, Kleidung zu designen, die nicht nur leicht an- und auszuziehen ist, sondern gleichzeitig schön aussieht und aus hochwertigen Materialien besteht. In Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal entwickelte sie erste Prototypen ohne traditionelle Knöpfe und mit einem speziellen Schnitt, der dafür sorgt, dass sich die Menschen mit Behinderungen ohne Schmerzen und Stress anziehen können. Mittlerweile finden sich im Shop Kleidungsstücke wie Pullover für Frauen mit Pflegebedarf und Ponchos, die allesamt fair und nachhaltig in Italien produziert werden. Dabei bestehen die Kleidungsstücke aus einem hochwertigen Garn-Mischung, die nicht nur besonders pflegeleicht ist, sondern zudem schnell trocknet und sich jeder Wetterlage komfortabel anpasst und sich somit ideal für Menschen eignet, die auf einen Rollstuhl angewiesen und/oder Mobilitätseinschränkungen haben.

Homeswap on Wheels

Homeswap on Wheels” ist eine Online-Plattform, auf der man barrierefreie Haustausch-Angebote findet und so einen selbstbestimmten Urlaub ermöglicht. Egal, ob man auf einen Rollstuhl angewiesen ist, einen Rollator oder Scooter nutzt, mit einer persönlichen Assistenz lebt oder einen Blindenhund besitzt – auf der Plattform findet man ein vielfältiges barrierefreies Angebot an Wohnungen, die man alle für einen Urlaub in Anspruch nehmen kann. Dabei kann man präzise nach verschiedenen Ausstattungsmerkmalen filtern, die man auch von Zuhause gewöhnt ist. Gegründet wurde die Plattform von Tiam Grundstein, der selbst behindert ist und sich so der verschiedenen Herausforderungen von barrierefreien Reisen mehr als bewusst ist. Der Gründer ist schon lange behindertenpolitisch tätig und möchte mit seiner Plattform, kompromissloses Reisen für jede:n ermöglichen. Im Zuge der Corona-Pandemie hat er unter dem Motto “HomeSTAY on Wheels” das Konzept des “erweiterten Wohnzimmers” entwickelt. Im Rahmen eines zweimal wöchentlich stattfindenden Zoom-Calls bietet Tiam behinderten, chronisch kranken und alten Menschen einen sicheren Raum, wo sie sich miteinander über derzeitige Herausforderungen und Ängste austauschen können und sich gleichzeitig hilfreiche Tipps für die Bewältigung des Alltags geben können.

© Knitrose
Das Social Business Knitrose stellt Bekleidung für Rollstuhlfahrer:innen,
Senior:innen und Frauen mit Mobilitätseinschränkungen her.

 

LeadMe

Die Brillen von der Wiener Firma “Leadme” sehen aus wie ganz normale Sonnenbrillen, helfen blinden und sehbeeinträchtigten Menschen jedoch dabei, ihren Alltag besser zu bewältigen. Das gelingt durch Infrarotsensoren, die an der Brille angebracht sind und Hindernisse auf Augenhöhe und oberhalb der Hüfte erkennen. Somit schützen die Brillen von Leadme auch vor alltäglichen Gefahren, die ein Blindenstock oder -hund nicht erkennen würde. Durch ein haptisches Feedback am Brillenbügel, werden die Träger:innen auf das jeweilige Hindernis aufmerksam gemacht und können entsprechend ausweichen. Die Entwicklung von ersten Prototypen entstand in enger Zusammenarbeit mit der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs. Durch kontinuierliches Testen und Verbessern stellen die drei Gründer sicher, dass sie mit ihren innovativen Brillen den Alltag und die soziale Interaktion von Menschen mit Sehbehinderungen auch wirklich nachhaltig verbessern.

Innomake

Auf einem ganz ähnlichen Prinzip basieren die “sehenden Schuhe” des Österreicher Startups “Tec-Innovation”, die den Alltag von blinden und sehbeeinträchtigten Menschen sicherer gestalten möchten. “Innomake” ist ein Schuh, der mit ein Warnsystem ausgestattet ist und am Frontbereich des Schuhs befestigt wird. Mithilfe von Abstandssensoren und Sensoren zur Erkennung der Fußbewegungen, einer Vibrationseinheit, einer ultrahellen LED und einer Verarbeitungseinheit sowie Drahtlosverbindung zum Smartphone, erkennt der Schuh Hindernisse und informiert die Nutzer:innen wahlweise haptisch, akustisch oder visuell. Die Elektronik wird durch ein wasser- und staubresistentes Gehäuse optimal geschützt und hält so jedem Wetter stand. Die verbauten Akkus wiederum halten bis zu einer Woche und lassen sich innerhalb von drei Stunden wieder voll aufladen. Die Schuhe von Innomake sind in ausgewählten Schuhfachgeschäften erhältlich und können auch österreichweit im Onlineshop des Startups bestellt werden.

Discovering Hands

Discovering Hands” sieht in dem vermeintlichen Nachteil eine Stärke und rettet damit Leben, indem sie die Brustkrebsvorsorge sinnvoll erweitert. Möglich gemacht wird dies durch den ausgeprägten Tastsinn von blinden und sehbehinderten Frauen, die in der Lage sind, bereits kleinste Abnormalitäten im Brustgewebe zu erspüren und dreimal mehr bösartige Veränderungen erkennen können als sehende Ärzt:innen. Die erfolgreiche Idee aus Duisburg, startet nun auch mit einem Ableger in Österreich. Hier muss zunächst noch im Rahmen einer Wirksamkeitsstudie das Berufsbild der sogenannten Medizinisch Taktilen Untersucherin (kurz MTU) etabliert werden. Interessierte Frauen ab 40 Jahren können an dieser Studie teilnehmen und eine kostenlose Tastuntersuchung erhalten. Mit der Teilnahme tragen die Teilnehmerinnen dann dazu bei, ein neues Berufsbild und eine verbesserte Brustkrebsvorsorge in Österreich zu etablieren. Des Weiteren werden sowohl in Deutschland als auch in Österreich Schulungen zur taktilen Selbstuntersuchung geboten, bei denen die MTUs ihr Wissen an die sehenden Frauen weitergeben, damit sie sich zur Prävention regelmäßig selbst zuhause untersuchen können.

© Discovering Hands
Bei Discovering Hands hilft der ausgeprägte Tastsinn von blinden
und sehbehinderten Frauen bei der Brustkrebsvorsorge.

 

AfB

Das Kürzel “AfB” steht für Arbeit für Menschen mit Behinderung und ist Europas größtes gemeinnütziges IT-Unternehmen. In dem Unternehmen, dass sich auf die Aufbereitung gebrauchter IT-Hardware spezialisiert hat, arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung Hand in Hand und barrierefrei zusammen. An insgesamt 20 Standorten, darunter Deutschland, Österreich, Frankreich, Schweiz und der Slowakei arbeiten insgesamt 500 Menschen, davon 45 Prozent mit Behinderung. Seit der Gründung vor acht Jahren hat das gemeinnützige Unternehmen, das auch als Inklusionsbetrieb anerkannt ist, zahlreiche Geräte wieder aufbereitet und erneut vermarktet. Damit konnte nicht nur die Umwelt geschont, sondern auch wertvolle Ressourcen im Vergleich zur Neuproduktion eingespart werden. Des Weiteren spendet AfB ihre aufbereiteten Geräte regelmäßig an Initiativen weltweit. Während der Pandemie gründete das Sozialunternehmen zuletzt die Initiative “Mobiles Lernen”, bei der Unternehmen iPads und Laptops zu günstigen Konditionen an Schulen und Familien vermitteln und die Lehrkräfte unterstützt werden, Notebook- und Tablet-Klassen erfolgreich zu planen.

Die 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung, die Sustainable Development Goals (SDGs) sind ein Fahrplan für die Zukunft, den die Weltgemeinschaft 2015 beschlossen hat. Sie richten sich an alle: die Regierungen weltweit, aber auch die Zivilgesellschaft, die Privatwirtschaft und die Wissenschaft.

 

 

Ziel 10 – Weniger Ungleichheiten

In ihrer Agenda 2030 hat die Staatengemeinschaft für das SDG #10 – “Weniger Ungleichheiten” folgende Unterziele verankert:

  • Das Einkommens­wachs­tum der ärmsten 40% soll bis 2030 je­weils über dem nationalen Durch­schnitt liegen
  • Alle Menschen sollen – unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Orien­tie­rung, Be­hinde­rung, Ethnizität, Religion, Her­kunft oder so­zia­lem und wirt­schaftl­ichem Status – gleiche Mög­lich­keiten haben
  • Abschaffung diskriminierender Ge­setze und Po­li­tik­maß­nahmen
  • Ungleichheiten noch wirksamer re­du­zieren
  • Mehr Mitsprache von Ent­wick­lungs­ländern
  • Geordnete, sichere, verantwortungsvolle und reguläre Migration und Mobilität

Dieser Beitrag ist Teil der Gexsi Österreich Blogserie und wird gefördert durch die Austrian Development Agency (ADA) aus Mitteln der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit.