Wie Sozialunternehmen einen Markt für fabrikneue Sachspenden schaffen

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Kleinigkeiten wie fehlerhafte Etiketten führen oftmals dazu, dass fabrikneue Ware unverkäuflich ist und entsorgt wird. Doch es gibt Leuchtturmprojekte, die diese Produkte retten und an soziale Organisationen weitervermitteln.

Was tun mit 200.000 Flaschen Shampoo? Fabrikneu, top Ware, aber falsch etikettiert? Solche Fragen stellen sich Hersteller:innen von Konsumgütern immer wieder. Denn nicht alles, was produziert wird, findet letztlich auch den Weg ins Ladenregal. Während es mittlerweile zahlreiche Initiativen gibt, die Lebensmittel retten, wird es sehr dünn, sobald es um Konsumgüter wie Shampoo, Windeln oder Schulhefte geht. Und dies, obwohl es sich um fabrikneue Ware handelt, ohne Qualitätsmängel oder abgelaufenes Haltbarkeitsdatum. 

Oft sind es Kleinigkeiten, die dazu führen, dass fabrikneue Ware nicht auf den Markt kommt: Das Etikett ist in der falschen Sprache gelabelt, die Verpackung weist eine leichte Farbabweichung auf oder es soll in Kürze ein neues Design eingeführt werden. Hinzu kommt, dass Hersteller:innen eine immer größere Produktvielfalt anbieten oder auf saisonale Varianten setzen, etwa ein Deo-Duft passend zur Herbstzeit. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Überproduktion kommt und nicht alle Waren von den Händler:innen abgerufen werden.

Entsorgen ist günstiger als Spenden

Die Ware wird dann häufig einfach entsorgt. Es klingt verrückt, ist aber wahr: Es ist in der Regel günstiger, Ware zu entsorgen als sie zweckgebunden zu spenden. Dies hat vor allem zwei Gründe:

  • Logistikkosten: Es reicht nicht, die Produkte auf den Hof zu stellen und zum Abholen freizugeben. Sie würden dann vermutlich auf dem Schwarzmarkt landen. Sie müssen zwischengelagert werden, gegebenenfalls in kleinere Pakete umverpackt und bedarfsgerecht den jeweiligen Organisationen zugänglich gemacht werden. In anderen Worten: Es muss ein Markt geschaffen werden, der Angebot und Nachfrage zusammenbringt.
  • Fehlsteuerung: Hinzu kommt, dass das Steuersystem – zumindest in Deutschland –  das Entsorgen gegenüber dem Spenden steuerlich begünstigt. Denn im Laufe des Herstellungsprozesses zahlen Unternehmen Umsatzsteuer auf die einzelnen Vorprodukte. Normalerweise wird diese durch die beim Verkauf in Rechnung enthaltene Umsatzsteuer ausgeglichen. Verschenken Unternehmen die Produkte, bleiben sie auf der im Vorfeld bezahlten Steuer sitzen. Das können sie verhindern, indem sie die Ware einfach entsorgen. Auf diese Weise erstattet das Finanzamt nach geltendem Steuerrecht den Unternehmen die in den Vorprodukten enthaltene Umsatzsteuer, da die Produkte nicht mehr Teil des wirtschaftlichen Kreislaufs sind.

Die Größenordnung ist alles andere als trivial. Es wird geschätzt, dass jährlich Waren im Wert von 7 Milliarden Euro entsorgt werden, anstatt in den Handel zu kommen. Rund ein Drittel davon gehören genau zur Warengruppe, die gemeinnützige Organisationen dringend benötigen: Spielzeug, Körperpflege, Haushaltswaren, Baumaterial, Waschmittel, Bürobedarf.

 

Wir unterstützen innatura – Fabrikneue Ware wird zur Spende

Das Angebot, 200.000 Shampooflaschen kostenlos zu übernehmen, sofern diese nicht auf dem Schwarzmarkt landen, bekam Juliane Kronen 2009 von einem ehemaligen Kollegen. Damals, als Partnerin der Unternehmensberatung BCG in Köln, hatte sie keine Lösung. Diese Anfrage hat sie jedoch als Anstoß genommen, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, das das Problem löst. Mit Erfolg: 2013 gründete sie mit Unterstützung der Impact Investment Firma Bonventure das gemeinnützige Unternehmen innatura. Dieses vermittelt Konsumgüter des täglichen Bedarfs an den sozialen Sektor und übernimmt dabei die gesamte Logistik und Administration. Die Ware wird von den Unternehmen direkt in das innatura-Lager geliefert oder von innatura abgeholt, in handelsübliche Größen umverpackt und dann bedarfsgerecht an gemeinnützige soziale oder kirchliche Organisationen und Einrichtungen vermittelt. Es gibt keinen Verkaufspreis, sondern lediglich eine Vermittlungsgebühr. Diese fällt, je nachdem wie stark die Produkte nachgefragt sind, unterschiedlich hoch aus und bewegt sich in aller Regel zwischen 5% und 20% des Warenwertes. Dabei orientiert innatura sich stets am Discounter-Preis. Für den sozialen Sektor mache es keinen Sinn, einen Aufpreis für teure Marken zu zahlen, argumentiert Juliane Kronen. Daher werden bei innatura angesagte Markenprodukte genauso günstig abgegeben wie das Noname-Produkt vom Discounter.

innatura wird im September 2023 von GOOD unterstützt – mit euren Suchanfragen könnt ihr also aktiv Geld für dieses Projekt generieren!

 

© Innatura

 

Das Sozialunternehmen, das gerade sein 10-jähriges Jubiläum feiert, kann auf große Erfolge zurückschauen:

  • Mehr als 2.800 soziale Einrichtungen wie Kinderheime, Obdachlosenunterkünfte oder Jugendprojekte beziehen regelmäßig Produkte über innatura.
  • Die Empfängerorganisationen konnten damit 35 Millionen Euro einsparen und für die Sicherung oder Ausweitung ihrer sozialen Arbeit einsetzen.
  • Über 8000 Tonnen Abfall wurden bereits vermieden.
  • 225 Hersteller- und Handelsunternehmen wie Beiersdorf, Procter & Gamble oder Amazon Deutschland spenden bereits Konsumgüter zur Vermittlung. 
  • Das Sortiment umfasst über 1.500 Artikel des täglichen Bedarfs – von Windeln über Waschmittel, Shampoo und andere Hygieneartikel bis hin zu Spielzeug und Büromaterial.

Innatura hat die logistischen Herausforderungen für Sachspenden von Unternehmen erfolgreich gelöst. Was die steuerlichen Fehlanreize anbelangt, versucht innatura immer wieder aufs Neue, das Thema in die Politik zu bringen. Inzwischen kommt tatsächlich etwas Bewegung ins Spiel. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung wurde verankert, dass Sachspenden fabrikneuer Waren erleichtert werden sollen. Juliane Kronen hofft, dass Deutschland auch wirklich aktiv wird und nicht etwa auf eine europäische Regelung wartet. Denn steuerrechtlich möglich wäre dies durchaus. Es müsste lediglich neben dem regulären und dem ermäßigten Steuersatz ein weiterer Steuersatz in Höhe von null Prozent für Sachspenden eingeführt werden.

 

Die Benchmark: In Kind Direct aus England

Als Vorbild für innatura diente die britische Organisation In Kind Direct. Die Organisation ist bereits seit 1996 auf dem Markt und erreicht fast 4000 soziale Organisationen. Während die Idee, ein “Social Enterprise” zu gründen, das am Markt operiert, aber nicht gewinnorientiert arbeitet, im angelsächsischen Bereich eine lange Tradition hat, ist das Thema in Deutschland noch relativ neu. Erstaunlich ist jedoch, wer sich als der Social Entrepreneur entpuppt, der In Kind Direct erfolgreich mit auf den Weg gebracht hat und es weiterhin als Schirmherr begleitet: Prinz Charles von Wales, das derzeitige Oberhaupt des britischen Königshauses. Es zeigt: Die Social Entrepreneurship-Szene, die oft mit jungen Gründer:innen assoziiert wird, ist vielfältiger und bunter, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Early Adopter: Dons Solidaires in Frankreich

Bereits seit 2004 hat die französische Non-Profit Dons Solidaires das Modell in Frankreich etabliert und bis heute Waren des täglichen Bedarfs im Wert von mehr als 250 Millionen Euro an gemeinnützige Organisationen vermittelt. In Kind Direct und Dons Solidaire sind die größten Organisationen in diesem Bereich. Allein 2022 konnte Dons Solidaire mehr als eine Million Menschen in Frankreich unterstützen und hat über 10 Millionen Produkte vermittelt.

Gegenläufige Entwicklung in den Alpenländern: Fairmittlerei in Österreich und Materia Bona in der Schweiz

Das Vermitteln von Sachspenden erscheint so einfach wie logisch. Dem ist allerdings (leider) nicht immer so. Die Logistik, das Umverpacken in bedarfsgerechte Pakete sowie das Aufspüren von Spendern und Organisationen, die genau die angebotenen Produkte benötigen, sind keine Selbstläufer. 

Dies gilt insbesondere für kleinere Länder wie Österreich oder die Schweiz, wo viele der dort verkauften Alltagsprodukte nicht im Land selbst hergestellt werden. So musste die als gemeinnütziger Verein aufgestellte Fairmittlerei in Österreich ihren Betrieb Mitte 2022 einstellen – für viele im Sektor vollkommen unerwartet. Fast zeitgleich ging mit Materia Bona eine eigenständige Organisation für die Vermittlung von fabrikneuen Sachspenden in der Schweiz an den Start.

 

© Lukas Ilgner / Fairmittlerei


Kooperation über Ländergrenzen hinweg

Für kleinere Länder sieht Juliane Kronen die Kooperation zwischen den einzelnen Länderorganisationen als Schlüssel zum Erfolg. So können gerade große Konsumgüterhersteller wie Proctor & Gamble Produkte in verschiedenen Ländern zur Verfügung stellen, unabhängig davon, wo sich die jeweilige Fabrik befindet.

Juliane Kronen ist auch im Vorstand von In Kind Direct International, der Dachorganisation, die die Kooperation von aktuell vier Länderorganisationen – In Kind (UK), Innatura (D), Dons Solidaire (F) und Materia Bona (CH) – steuert. Mit ihrer Hilfe konnten bis heute Waren im Wert von etwa 20 Millionen Euro zwischen den einzelnen Partnern transferiert werden. Auf diese Weise kann in einzelnen Ländern auch dann ein breites Produktsortiment angeboten werden, wenn der Zugang zu Produktspenden ungleich verteilt ist. Zudem können vereinzelte Großspenden, die den Bedarf eines  einzelnen Landes überschreiten, länderübergreifend vermittelt werden. Dem sind allerdings Grenzen gesetzt: Neben den Transportkosten sind es vor allem Einfuhrbestimmungen bzw. Zölle, die den Handel begrenzen. So ist seit dem Brexit der Austausch mit England nahezu zum Erliegen gekommen. Die Bestimmungen für die Schweiz sind allerdings günstig – ein Glücksfall für Materia Bona.

MEHR ZUM PROJEKT

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