Ein Rettungsanker für Jugendliche per App

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Viele Jugendliche fühlen sich mit ihren Problemen allein gelassen, haben niemand, mit dem sie darüber reden können. Das gemeinnützige Startup Between The Lines bietet über eine App ganz unkompliziert und anonym Hilfe und lässt damit niemand alleine zurück.

Was nutzen Hilfeangebote, die nicht gefunden werden?

Liebeskummer, schulische Sorgen, Einsamkeit, Cybermobbing, Stress mit den Eltern, Drogenkonsum oder Unsicherheit über die sexuelle Orientierung. Jugendliche beschäftigen eine Vielzahl an Problemen. Hinzu kommt, dass die Anfälligkeit, an einer Depression zu erkranken, bei Jugendlichen besonders hoch liegt. Was tun?

«Viele Jugendliche wissen überhaupt nicht, wie groß das Hilfsangebot in ihrer Stadt wirklich ist.» Oliver, Kröger, Co-Founder Between The Lines

Wir haben in Deutschland ein dichtes Netzwerk an Hilfsorganisationen, Kliniken, Beratungsstellen, Notfallnummern oder auch Notschlafstellen. Viele davon richten sich gezielt an Jugendliche. Das Problem: Viele der Angebote und Initiativen sind nicht bekannt und werden von den betroffenen Jugendlichen nicht – oder nicht im richtigen Moment – gefunden. Angebote wie das Kinder- und Jugendtelefon („Nummer gegen Kummer„) sind ein Grundbaustein der Jugendhilfe in Deutschland. In einer Welt, in der Jugendliche im Schnitt 58 Stunden die Woche online sind und viel mehr chatten als telefonieren, fallen jedoch zunehmen Jugendliche durch das Raster. Die Hemmschwelle, zum Hörer zu greifen und etwa die Nummer gegen Kummer zu wählen, ist weitaus höher als eine App herunterzuladen – insbesondere, wenn diese von Jugendlichen für Jugendliche gemacht ist.

Die zunächst als ehrenamtliches Projekt in Solingen gestartete App „Between the Lines“ setzt genau hier an. Sie ist kostenlos, werbefrei und punktet insbesondere durch ihr niederschwelliges Angebot. Mit ihren Informationen und Stories ist sie ein guter Begleiter für jeden Tag und auch dann ein attraktives Angebot, wenn keine akute Notsituation vorliegt oder die Sorgen zu diffus sind, um sich gezielt an eine bestehende Organisation zu wenden. Jeder entscheidet völlig autonom, anonym und selbständig, ob, wann und an wen sie oder er sich wenden möchte.

Wir haben mit Oliver Kröger gesprochen, der gemeinsam mit Nick Wüsthoff und Beat Weichsler die App Between The Lines entwickelt hat. Alle Zitate, soweit nicht anders gekennzeichnet, sind von ihm, so auch folgende Frage, die Oliver Kröger im Jugendrat Solingen stellte und schließlich den Anstoß zur Programmierung der App gab:

«Was macht ihr eigentlich, wenn es euch richtig schlecht geht?»

Between The Lines soll Hilfsangebote für Jugendliche erreichbar machen und damit eine digitale Brücke zum Jugendhilfesystem schlagen. Viele Jugendliche wissen überhaupt nicht, wie groß das Hilfsangebot in ihrer Stadt wirklich ist. Gleichzeitig berichten viele Vereine und Initiativen, dass sie nicht wissen, wie sie die Jugendlichen erreichen können. Diese Vermittlungslücke möchte die App schließen und somit einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Jugendliche frühzeitig und niedrigschwellig Hilfe bekommen. Oft ist ein passendes soziales Angebot für Jugendliche der fehlende Anker, der helfen kann, aus einer psychischen Störung herauszukommen –  oder gar nicht erst hineinzugeraten.

 

Hey, ich hab ein Problem

Über Probleme zu sprechen kann sehr schwer sein. Etwa weil Scham, die Angst vor Stigmatisierung oder ein unvollständiges Verständnis des Problems den Zugang zur Hilfe versperrt. Manchmal sind Probleme auch zu diffus, um sie zu erklären. Besonders wenn es um psychische Belastungen geht, ist die Hürde für Jugendliche groß, im eigenen Umfeld nach Unterstützung zu fragen.

Between the Lines will hier Abhilfe schaffen. Neben Adressen von Hilfsorganisationen hat die App eine bunte Informationslandschaft mit 21 Themenkategorien, die jugendliche Sorgen und psychische Probleme betreffen. Mobbing, Essstörung, Trennung der Eltern, Sexualität, die Themengebiete sind breit gefächert und in jugendgerechter Sprache dargestellt. Wer sich im Moment nicht traut, über seine Probleme zu sprechen, findet hier niedrigschwellig Antworten und Hilfe.

«Psychische Erkrankungen sind leider immer noch stigmatisiert. Wir wollen, dass Jugendliche, die Probleme haben, wissen, dass sie nicht allein sind und dass es Hilfe und Lösungen gibt.»

Between the Lines will informieren und somit einen Beitrag dazu leisten, dass Jugendliche ihre Sorgen besser einordnen können und dass psychische Erkrankung normalisiert wird. Ultimativ sollen Jugendliche frühzeitig die Hilfe finden, die sie brauchen. Ob jemand in einer psychischen Krise steckt und Unterstützung braucht, oder ob jemand Langeweile hat und Freizeitangebote sucht, in der App werden die verschiedensten Bedürfnisse abgedeckt.

 

 

Künstliche Intelligenz und echte Menschen, die helfen

Ein zentrales Element der App könnte künftig ein Chatbot sein, der durch die Applandschaft begleitet. So hilft künstliche Intelligenz zu erkennen, wo der Schuh drückt und mit welchem Angebot am besten geholfen werden kann. Über den Dialog mit dem Chatbot kann die App auch Anhaltspunkte identifizieren, die auf eine besondere Dringlichkeit wie eine Suizidgefährdung hindeuten, und den Jugendlichen ermuntern, externe Hilfe aufzusuchen. Die Funktion ist als Betaversion bereits entwickelt, ist aber noch deaktiviert, bis sie voll ausgereift ist.

Eine Besonderheit ist eine Informationsplattform mit Videos und Texten zu verschiedenen Themen, die Jugendliche betreffen. Wer zum Beispiel eine Frage hat zu Mobbing, Sexualität, Ausbildung oder Trennung der Eltern, dem kann vielleicht direkt schon weitergeholfen werden. Alle Informationen sind zusammengestellt von Fachleuten im psychischen Gesundheitsbereich und in jugendgerechte Sprache übersetzt. 

«Unsere Held*innengeschichten zeigen, dass du okay bist, so wie du bist.»

Einem eigenen Teil der App sind Held*innengeschichten gewidmet. Between the Lines hat das Internet und Social Media durchforstet und eine Sammlung von Videos zusammengestellt mit persönlichen Geschichten von Menschen, die als Jugendliche z.B. selbst Depressionen oder Essstörungen erlebt haben. Die Geschichten und Ratschläge sollen Jugendlichen neuen Mut und Selbstvertrauen geben – und ihnen vor allem das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind mit ihren Sorgen.

Währenddessen bleibt der/die Benutzer*in natürlich anonym und kann sich unkompliziert durch die verschiedenen Themenbereiche klicken, ohne direkt jemandem das Problem erklären zu müssen, was oft schon eine Hürde für Jugendliche ist.

«Jeder kann die App nutzen, ohne erklären zu müssen, was genau das Problem ist.»

Wer allerdings den persönlichen Kontakt braucht und mit jemandem sprechen möchte, findet hier Nummern und Adressen mit Anlaufstellen in der Nähe. Between The Lines veröffentlicht detaillierte Informationen zu mittlerweile 1200 Hilfsorganisationen in ganz Deutschland von Krisen-Hotlines über regionale Freizeitangebote, Gruppen, in denen man Anschluss finden kann, bis hin zu Beratungsstellen . Diese Zahl soll sich in nächster Zeit noch deutlich vergrößern.

 

 

Eine Kooperation mit Studierenden der CODE-University     

In die Entwicklung von Between The Lines sind ganz unterschiedliche Perspektiven eingeflossen. Nick Wüsthoff war Student an der CODE-Universität in Berlin, wo er gerade seine Abschlussarbeit schrieb, Oliver Kröger  Fachkraft für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Solingen. Später kam noch der Informatiker Beat Weichsler als dritter Co-Founder hinzu. Im Zusammenspiel der digitalen Welt mit der Kinder- und Jugendhilfe liegt die Stärke von Between The Lines. Es gibt in Deutschland kein anderes Online-Portal, in dem alle Daten und Adressen gesammelt und zielgruppengerecht aufbereitet werden, die für Jugendliche in Krisen und schwierigen Momenten wichtig sind.

«Wir betreten Neuland mit dieser App.»

Durch seine Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt Oliver Kröger die psychische Gesundheit von Jugendlichen sehr.  Er initiierte deshalb 2015 eine Projektgruppe im Jugendstadtrat Solingen. Zusammen mit neun Jugendlichen, einer davon Nick Wüsthoff, befassten sie sich mit der Frage, was Jugendliche machen, wenn es ihnen richtig schlecht geht. Schnell ist daraus die Idee einer App entstanden, dessen Prototyp Anfang 2018 erfolgreich in Solingen gelauncht wurde. Kurz darauf begann Nick Wüsthoff sein Studium an der CODE-Universität in Berlin und machte sich daran, die App gemeinsam mit einigen seiner Kommilitonen nochmals komplett neu zu programmieren. Between The Lines blickt somit auf eine 5-jährige Entwicklungsphase zurück.

Im Nachhinein erscheint es als ein Glücksgriff, dass Oliver Kröger und Nick Wüsthoff zusammengefunden haben. Denn die CODE-Universität in Berlin verbindet die Welt der Digitalisierung mit einem hohen sozialen Anspruch, möchte die digitalen Pioniere von morgen ausbilden.

«Lerne den Umgang mit digitalen Technologien, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.» Claim der CODE Universität Berlin

So profitiert Between The Lines von der digitalen Expertise von CODE, während die Inhalte von Fachkräften der Jugendhilfe bereitgestellt werden. Damit die User Experience stimmt, haben sich die Programmierer über Umfragen an Schulen darüber informiert, wie Jugendliche eine solche App am liebsten nutzen würden. Daher kam die Idee von einem Chatbot auf, der die Benutzer*innen am Anfang begrüßt und durch die App leitet.

 

Wie es weiter geht

All die Arbeit hinter den Kulissen der App war anfangs komplett ehrenamtlich. Seit kurzem ist Between the Lines eine gemeinnützige GmbH. Zunehmend richten sich Städte und Gemeinden oder politische Entscheidungsträger an das Social Startup, um das Angebot in ihrer Region zu ermöglichen.

«Between The Lines ist ein exzellentes Beispiel, wie mit innovativen Ideen und digitalen Konzepten (…)  für Jugendliche in Deutschland Problemstellungen gelöst werden können.» Dorothee Bär, Digitalbeauftragte im Bundeskabinett unter Angela Merkel

Die App ist aktuell verschiedenen Städten NRWs verfügbar, so in Düsseldorf, Neuss, Wuppertal oder Solingen, aber auch in Braunschweig. Eine Ausweitung in weitere Städte und Gemeinden wird mit Elan vorangetrieben. Zwar ist der Aufwand, eine neue Stadt einzubinden, zunächst nicht ganz gering. Aber es lohnt sich. Denn die App wird dort, wo sie angeboten wird, von Jugendlichen dankbar angenommen.

Between the Lines Grafik Schlechter Tag

Krisenchat, Crisis Textline und weitere Angebote für Jugendliche in Not

Die App Between The Lines ist – zum Glück – nicht das einzige niederschwellige Angebot für Jugendliche, die sich in einer Krisensituation befinden.

Die während der Pandemie 2020 gegründete Initiative krisenchat bietet Kindern und Jugendliche Beratung in Krisensituationen per Chat. Der anonyme, kostenfreie Service funktioniert via WhatsApp und SMS und reduziert damit die Hemmschwelle gegenüber einem Anruf über eine Telefon Hotline enorm – zumal die Beratung und Tipps ebenfalls von jungen Menschen gegeben werden, die sich in die Lage der Betroffenen gut hineinversetzen können. Drei der fünf Macher:innen hinter krisenchat waren bei der Gründung selbst erst 17 Jahre alt. Zweieinhalb Jahre später ist es bereits ein Sozialunternehmen mit etwa 80 Mitarbeiter:innen, die von über 430 Ehrenamtlichen unterstützt werden.

Vorbild war mit hoher Wahrscheinlichkeit die preisgekrönte Initiative Crisis Textline aus den USA. Die inzwischen auch in Kanada, Irland und Großbritannien verfügbare App arbeitet ebenfalls mit geschulten Freiwilligen, die über Textnachrichten Fragen von Jugendlichen in Krisensituationen beantworten. Mit Erfolg: Crisis Textline hat schon weit mehr als 100 Millionen Textnachrichten verarbeitet. 

Auch Crisis Textline entwickelt sich sukzessive weiter. Während der Corona Pandemie hat das Team die App ForTheFrontLines entwickelt. Diese richtet sich speziell für Menschen an den ‚Front Lines‘ – Menschen, die während der Pandemie besonders gefordert werden, zum Beispiel Ärzte, Krankenschwestern, oder andere Menschen, die durch die Situation von Ängsten und Einsamkeit geplagt werden.

Folgende weitere Angebote gibt es für Kinder und Jugendliche in Not im deutschsprachigen Raum:

  • Kinder- und Jugendtelefon. Die vom gemeinnützigen Verein Nummer gegen Kummer gemanagte Telefon Hotline für Kinder- und Jugendliche in Krisensituation kann auf eine 40-jährige Geschichte zurückblicken. Das Themenspektrum ist ähnlich breit wie bei Between The Lines und dürfte für viele, die einen echten Ansprechpartner brauchen, die erste Anlaufstelle sein.
  • Telefonseelsorge: Die vom Bundesministerium geförderte Telefonseelsorge bietet sowohl am Telefon als auch in einem Chatraum und über email Beratung für Menschen in Not von professionellen Beratern an. Hier muss man für ein Chat – Gespräch einen Termin ausmachen, und je nachdem für einige Stunden warten.
  • KrisenKompass: eine App von der Telefonseelsorge richtet sich gezielt an suizidgefährdete Personen oder Menschen, die suizidgefährdeten Menschen helfen wollen.
  • Infocklick.ch: Die schweizer Organisation richtet sich an Jugendliche und Kinder. Der Schwerpunkt liegt hier nicht so sehr auf Krisenhilfe, sondern eher in der Unterstützung von Ideen, die verwirklicht werden wollen. Die Internetseite funktioniert ähnlich wie bei Between The Lines als Plattform, um Jugendliche mit den richtigen Ansprechpartnern und Jugendprojekten zu verbinden. Hier finden Jugendliche Ermutigung, wenn sie nicht weiterkommen und Inspiration, wie sie sich engagieren und ihre Ideen verwirklichen können. Infoclick ch. wird jährlich von 150.000 Jugendlichen genutzt und ca. 500 Jugendprojekte machen mit.

In Österreich und der Schweiz hat sich zudem die Notrufnummer 147 als Notrufnummer für Kinder- und Jugendliche etabliert, die anonym 24Std am Tag erreichbar ist. Sie wird von gemeinnützigen Organisationen gemanagt, Rat auf Draht in Österreich bzw. pro joventute in der Schweiz.

 

Dieser Magazin-Beitrag wurde am 1. Mai 2020 veröffentlicht, am 24. November 2022 aktualisiert und dabei nochmals überarbeitet.

Between The Lines konnten wir mit Hilfe eurer Suchanfragen auf GOOD unterstützten. Hier geht es zum Steckbrief und unserer Projektbewertung: